Bernauer Heerweg ’23

Berlin, Zitadelle Spandau um 04:45 Uhr: dank des Schienenersatzverkehres hatten wir eine kurze, knackige Anreise mit dem RE8 um 4 Uhr irgendwas. Es ist arschkalt, nach 10 Minuten ziehe ich alles an, was ich mit habe — Uli hatte das klugerweise schon im Zug erledigt. Die Temperatur bleibt im Keller, nach fast zwei Stunden Fahrzeit zeigt das Thermometer im Wald immer noch 3,6 Grad. Bei Blankenfelde stolpern wir in eine sehr unvorbereitete Begegnung mit einer großen Wildschweinrotte, inklusive einiger Frischlinge. Die Bachen sind uns jedoch wohlgesonnen und ziehen ab. Bis Bernau keine besonderen Vorkommnisse, in Eberswalde der erste Stopp auf POI-Empfehlung beim freundlichen Bäcker Gustav mit seinem praktischen Fahrradständer im Löwenoutfit.

Gut gestärkt verlassen wir Eberswalde und tauchen ein in die Phantasielandschaft der „Brandenburger Keys‘, die beeindruckenden Wetlands um den Plagefenn. Nach einigen kleineren Anstiegen werden wir kurz vor Oderberg belohnt mit einem hervorragenden Blick in die Weite vom Pimpinellenberg.

Eine rasante Abfahrt nach Oderberg folgt, dort angekommen, traue ich meinen Augen nicht: Huckleberry Finn? Fitzcarraldo? Äh, ich hatte doch den Bernauer Heerweg gebucht! Der beeindruckende Dampfer Riesa beschert mir fast einen Verkehrsunfall ohne Fremdeinwirkung – für Uli allerdings ist er scheinbar nur ein alter Hut. Anschließend ein kurzer Exkurs zu den Eskapaden des Kinski. Beim Checkpunkt Festung Oderberg angekommen treffen wir zwei tapfere Heerwegerinnen, die wir beim Cliffhanger Abstieg von der Burgmauer unterstützen dürfen.

Mittlerweile ist es wärmer geworden und die Entscheidung für kurz/ kurz hat Bestand. Begleitet durch endlose Rapsfelder in der Horizontalen und gigantische Windräder in der Vertikalen, rollen wir weiter durch die eiszeitlichen Wogen der nordostdeutschen Toskana – der Uckermark. Die Dürre der anstehenden Sommermonate lässt sich bereits erahnen, auch wenn es heute noch nicht flimmert über den staubigen Pisten, die mit eleganter Krümmung schwingend durch die sanften Hügel schneiden.

Die polnische Grenze rückt langsam näher, mein gestresstes rechtes Knie, heute Morgen frisch getaped, funktioniert wunderbar – auf der anderen Seite allerdings spüre ich leichte Schmerzen an der Außensehne des Oberschenkelmuskels.

Achtung, Exkurs: Der Anblick der Oderbrücke nach Krajnik Dolny erweckt in uns beiden gemischte Gefühle. Erinnerungen zum Grevet #4 2022 „Nova Marcia* werden wach: Wer diese Brücke überquerte, kam seinerzeit aus der langen dunklen Nacht. Die 120km der finsteren Hölle der polnischen Forstwirtschaft waren zwar überstanden, saßen jedoch noch tief in den Kettengliedern und der Weg zum Ziel schien noch beschwerlich und lang. Der flanierende Schlenker über die Plattenwege der Oderauen wurde im Angesicht des Kilometerstandes direkt skeptisch zur Kenntnis genommen, als der Wind jedoch noch so richtig aufdrehte, konnte ein leises Fluchen in den Gründen des ewigen Gravels vernommen werden. Kurz darauf passieren wir die Tankstelle, die damals leuchtend rot wie eine Fata Morgana in der Kurve der Schnellstraße erschien. Hier gab es den ersten Kaffee nach der nächtlichen Schlacht im polnischen Gehölz. Ich erinnere mich, ich war fertig mit den Nerven, suchte Gesellschaft und hatte Gesprächsbedarf, aber das polnische Personal teilte mein Bedürfnis nicht. Sie waren irritiert, ich war keiner der alltäglichen, benzintankenden und zigarettenkaufenden Nachbarn, sondern ein radreisender Zombi, der zwar deutsch war, aber englisch sprach und seine vier Hotdogs ausschließlich mit Red Bull runterspülte – ich denke man kann Ihnen nicht verübeln, dass sie jegliche Kontaktaufnahme verweigert. Die Geschichte von dem vergessenen Helm, der mir 30 zuckersüße Extrakilometer bescherte, erspare ich euch. Exkurs Ende.

Der weitere Track verläuft zunächst weiter auf den Spuren des Grevet „Nowa Marcia“ in umgekehrter Richtung. Auf dem Kirchplatz von Chojna, ca. km175, muss ich Uli resigniert gestehen, dass mein linkes Knie, das ich unterwegs bereits notdürftig versucht hatte, ebenfalls zu tapen, nicht mehr fahrbereit ist. Verzweifelte Versuche, mehr Kinesiotape in einer polnischen Kleinstadt am Samstagnachmittag aufzutreiben, treffen auf Unverständnis und versanden im Nichts. Uli‘s zufällig anwesender Nassrasierer bleibt somit ungenutzt und ich vor Ort. Uli setzt seine Reise über die verbleibenden 80 km nach kurzer Verabschiedung fort.

So enttäuschend das abrupte Ende dieser wunderbaren Reise auch war, so war der Weg bis dahin ein so lohnenswertes Ziel und in allen Momenten eine wunderbare Belohnung für jede einzelne Umdrehung der Kurbel.

Achtung, Epilog: nach einer Ibu, seidig heruntergespült mit einem hervorragenden Lech und gefolgt von einem ausladenden Dönerteller, mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof und besteige den Regionalzug nach Stettin, der mich glücklicherweise nicht dorthin bringen wird, sondern nach einem Halt auf freier Strecke ca. 15 km vor Stettin wieder in die ersehnte Freiheit entlässt. Dank moderner Pharmazie, polnischem Bier und einem Powernap funktioniert das Knie wieder erstaunlich gut. So kann ich unerwartet, bei bester Laune und Sonnenschein, solo (und ca 30 km vor Uli) auf den waghalsigen Stahlbetonschleifen des polnischen Motozäns die ruhmreiche Anfahrt auf die Hansestadt bestreiten. Dass dieser Ruhm natürlich Uli gilt, der gegen 19:30 Uhr einrollt, sei an dieser Stelle vorausgesetzt.

Maximalen Dank an Kerstin, Stefan, Chris und Tim für die Organisation und das fabelhafte Scouting.

Herzlichen Dank an Uli Ka für die hervorragende Gesellschaft – und Geduld.

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